Schöne neue TV-Welt

Seit einiger Zeit tummeln sich Gestalten in meinem Fernseher, die mir kalte Schauder über den Rücken jagen, so dass ich reflexartig um- oder abschalten muss. Es sind aber nicht Monster, Ausserirdische, Ashton Kutcher oder sonstige Albtraumgestalten aus Hollywood, welche mich derart schocken.

Kind vor Fernseher

Von Stephan Eisler

Ich kann nicht anders als zu zappen. Konnte ich noch nie. Schon als Kind habe ich mit meinem Daumen unzählige Knöpfe von unzähligen Fernbedienungen totgezappt. Das hatte eine ungemein beruhigende Wirkung auf mich. Okay, das Fernsehprogramm natürlich auch. In den Achtzigern wurde eben noch mehr auf kindgerechtes und pädagogisch wertvolles Programm geachtet. Eine saftige Ohrfeige und eine Dosis Ritalin hätten mich wohl auch davon abgehalten, beim Spielen den Grossteil der elterlichen Bude in Einzelteile zu zerlegen. Aber meine Eltern hatten da wohl einen anderen Ansatz…

Früher war das Fernsehprogramm besser. Zugegeben, die Bildqualität war beschissen. Wenn man sich das heute anschaut, ist das fast schon wieder Kult. Aber es lief mehrheitlich Gescheites; was sich nur schon daran zeigt, dass Lehrer für den Unterricht immer noch auf Filme aus dem Schulfernsehen zurückgreifen. Das ist kein Anzeichen für anstehende Pensionen oder Burnouts – das Zeug hatte Qualität. Selbst Anfang und Mitte der Neunziger hielt sich ein Mindestmass an Anspruch im öffentlich-rechtlichen wie auch im Privatfernsehen. Mit dem Fall der Mauer wurden die Leute verständlicherweise etwas lockerer; das musste ja irgendwann zu neuen Sendungen führen, die dem Zuschauer Gelegenheit geben, auch mal das Hirn zu lüften. Seit damals hat meine Zapperei nichts mehr mit Auswahl, sondern mit Flucht zu tun. Und es sollte noch schlimmer kommen.

In den letzten zehn Jahren nahm eine besondere Art Sendung immer mehr Sendezeit ein: Reality-TV. Dass die ach so „echten“ Dokus und Castingshows teilweise arg gescriptet sind, ist ein offenes Geheimnis. Deren Erfolgsgeheimnis bleibt ein Rätsel. Ebenso die Antwort auf die Frage, warum man sich so etwas antut. Um es mit dem deutschen Kabarettisten Serdar Somunçu zu sagen: Fernsehen ist heutzutage Unterhaltung von Asozialen mit Asozialen für Asoziale. Ich hätte es jetzt nicht ganz so krass formuliert. So „asi“ sind wir Zuschauer ja auch wieder nicht – vor allem nicht alle. Aber in einem Punkt hat der Mann Recht. Dass Hartz-IV-Empfänger und schwer integrierbare Migranten gerne für solche Sendungen gecastet werden, ist nicht zu übersehen. Kommt aber aufs Sendegefäss an. Ritalin-Kids beispielsweise sind Bohlens Revier.

Das Prinzip ist dasselbe wie in der klassischen Tragödie: Katharsis (Seelenreinigung). Frei Schnauze heisst das, dass der Zuschauer durch das Miterleben von fremdem Scheiss seinen persönlichen Scheiss kurzfristig vergessen und dadurch besser ertragen kann. Also bei mir klappt das wunderbar. Selbst Zappen ergibt wieder Sinn. Zudem kommt der Verschleiss an Fernbedienungen immer noch billiger als eine Therapie.

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